pte20200527025 Politik/Recht, Kultur/Lifestyle

"Politik hat Anschluss an Jugend verloren"

Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier eröffnet Europäische Toleranzgespräche 2020


Jugendforum: Bernhard Heinzlmaier (unten links) im Gespräch (Bild: W. Seywald)
Jugendforum: Bernhard Heinzlmaier (unten links) im Gespräch (Bild: W. Seywald)

Villach (pte025/27.05.2020/13:59) "Junge Menschen sind nicht politisch desinteressiert, sondern nur überaus kritisch, was den politisch-institutionellen Apparat betrifft. Dieser hat auf kommunikativer und inhaltlicher Ebene den Anschluss verloren." Mit dieser Einschätzung hat Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier bei den 6. Europäischen Toleranzgesprächen http://fresach.org für eine spannende Auftaktdiskussion gesorgt. Im Online-Chat mit Politikern und Klimaaktivisten ging es dabei auch um neue Möglichkeiten der politischen Partizipation und die "Fridays for Future"-Bewegung.

Bildungsgrad beeinflusst Interesse

"Umfragedaten zeigen ganz deutlich, dass Jugendliche heute Familie, Freunde und Freizeit als die wichtigsten Lebensbereiche ansehen. Religion oder Politik spielen hingegen eine relativ untergeordnete Rolle", so Heinzlmaier. Das heiße aber nicht automatisch, dass die Jugend sich generell nicht für politische Angelegenheiten interessiert. "Gemeint ist hier die institutionelle Politik mit ihrem traditionellen Parteiapparat, mit dem sich immer weniger identifizieren können", betont der Sozialforscher.

Die Parteien hätten gerade bei jüngeren Menschen ein "ernsthaftes Vertrauensproblem". "Nur 15 Prozent sprechen ihnen ihr Vertrauen aus", so der Vorsitzende des Instituts für Jugendkulturforschung http://jugendkultur.at . Damit liegen sie noch hinter Managern (23 Prozent) und Journalisten (30 Prozent). "Außerdem glaubt die Hälfte der Betroffenen, dass Politiker keine Ahnung haben, wie es den meisten Menschen geht. Für viele ist die Politik einfach zu abgehoben und zu weit weg von den Problemen der Bürger", ergänzt der Experte.

Natürlich müsse man aber bei der Verallgemeinerung solcher Aussagen aufpassen, denn "die Jugendlichen" als völlig homogene Gruppe gebe es nicht. "Die Unterschiede sind groß - manche leben in sehr großzügigen und manche in sehr armen Verhältnissen. Das hat auch die aktuelle Coronakrise aufgezeigt. Prinzipiell gilt: Je höher der Bildungsgrad, desto größer ist auch das politische Interesse", erklärt Heinzlmaier, der unter anderem der Politik vorwirft, diesen Ungleichheiten zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken: "Politik darf sich nicht nur an Eliten richten, sondern muss versuchen, alle Bürger ins Boot zu holen."

"Nahe am Menschen sein"

"Es ist wichtig, immer nahe am Menschen und seinen Bedürfnissen zu sein", ist auch der Kärntner Landtagspräsident Reinhart Rohr überzeugt. Wenn das nicht gelingt, bestehe die große Gefahr, dass die Politik nur noch in ihrer eigenen Sprache spricht, die von einem Großteil der Bevölkerung nicht mehr verstanden wird. "Deshalb bin ich auch ständig im ganzen Land unterwegs und notiere mir jedes Anliegen, das von Bürgern an mich herangetragen wird. Es stimmt also nicht immer, dass die Politik so weit weg vom Menschen steht - manchmal ist sie näher, als man glaubt", so Rohr.

Um etwa der Politikverdrossenheit bei der Jugend entgegenzuwirken, sei es nötig, neue Zugänge zur politischen Partizipation zu finden. "In Kärnten pflegen wir darum schon lange engen Kontakt zum Schülerlandtag. Themen, die dort diskutiert werden, kommen später oft direkt in den Landtag oder werden an die zuständigen Stellen weitergeleitet", schilderte der SPÖ-Politiker. Und weiter: "Ich lade euch alle ein, direkten Kontakt mit der Politik aufzunehmen. Wenn ihr gute Ideen oder Projekte habt, geht zum Bürgermeister und redet mit ihm darüber."

"Klimakrise betrifft uns alle"

"Auch ich habe viele Freunde und Bekannte, die mit Politik nicht sehr viel anfangen können und sich unverstanden und nicht abgeholt fühlen", gestand der Klimaaktivist Markus Tripp http://markus-tripp.at . Dabei ist der 18-Jährige aus Seeboden am Millstätter See selbst alles andere als politisch inaktiv: Er ist Teil der weltweiten "Fridays for Future"-Bewegung, setzt sich für Klima- und Umweltschutz ein und engagiert sich auch beim Klimabündnis Kärnten http://kaernten.klimabuendnis.at . "Mir geht es um mehr als rein individuelle Aspekte wie eine vegetarische Ernährung oder Müllvermeidung. Die Klimakrise ist ein Thema, das uns alle grundlegend als Gesellschaft betrifft", meinte Tripp.

Die drohende Klimakatastrophe sei demnach nur durch einen radikalen gesellschaftlichen Wandel noch abzuwenden. "Dieser Wandel kann nur gelingen, indem man es schafft, seine individuellen Anliegen mit anderen kollektiv zu verknüpfen. Ich finde es wichtig, sich politisch zu positionieren. Wenn man wirklich etwas verändern will, braucht man aber auch eine gewisse Form der Organisation. Im Bereich des Netzaktionismus gibt es mittlerweile viele Möglichkeiten, sich zu organisieren und dadurch besser Gehör zu verschaffen", führte Tripp aus.

Erst Aktivistin, dann Bürgermeisterin

Wie schwer es sein kann, als junger Aktivist mit seinen Anliegen in die Öffentlichkeit vorzudringen, hat auch Grünen-Politikerin Ulrike Böker http://ooe.gruene.at/ulrike-boeker während der Anfänge ihrer politischen Karriere am eigenen Leib erfahren. Die ausgebildete Kindergartenpädagogin war 1997 Mitgründerin einer Bürgerliste, die sich über Parteigrenzen hinweg für mehr Zusammenarbeit und eine stärkere Einbindung der Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse einsetzt. Wie erfolgreich das war, zeigte dann 2003 ihre Wahl zur Bürgermeisterin in Ottensheim.

"Man muss viel Dialogarbeit leisten, um möglichst viele Bürger mitnehmen zu können", berichtete die Expertin, die seit 2015 auch ihre Partei im oberösterreichischen Landtag vertritt, aus ihrer langjährigen politischen Erfahrung. Die Politik müsse aufpassen, dass sie nicht in Taktik und Strategie untergeht und dabei die wahren Ziele verloren gehen. "Die politische Arbeit kann nur dann Früchte tragen, wenn ganz viele Menschen gemeinsam an einer guten Zukunft für unsere Nachkommen bauen. Damit das funktioniert, braucht es nicht nur mehr Dialog, sondern auch Raum für Experimente, die den Menschen neue Wege zur politischen Partizipation eröffnen", so Böker.

Die ganze Session auf Youtube zum Nachschauen: https://youtu.be/Mp0HPVBx9zk

In der laufenden Interview-Serie zu den #ETG20 erschienen bei pressetext:

Politik und Kirche müssen Menschen Sinn geben
http://pte.com/news/20200528035

Toleranzgespräche: Auszug aus der "vollen Welt"
http://pte.com/news/20200528021

Corona ebnet Weg aus dem Massentourismus
http://pte.com/news/20200527035

"Politik hat Anschluss an Jugend verloren"
http://pte.com/news/20200527025

Magna-Chef: Ein wenig Entschleunigung wäre gut
http://pte.com/news/20200518006

"Das Leben ist zu kurz, um negativ zu denken"
http://pte.com/news/20200515002

Touristiker: "Balkonien kann Strand nicht ersetzen"
http://pte.com/news/20200505001

Psychotherapeut: Jugendkult der Alten am Ende
http://pte.com/news/20200423003

Gute Firmenführung keine "Kommandowirtschaft"
http://pte.com/news/20200416003

Kufeld: Coronavirus zeigt Bedeutung des Reisens
http://pte.com/news/20200401002

Therapeutin Hadinger: Innehalten in Krise ist Chance
http://pte.com/news/20200324001

Ex-Manager: Raubtierkapitalismus hat ausgedient
http://pte.com/news/20200303024

Toleranzgespräche: Klimakrise als Chance nützen
http://pte.com/news/20200214015

Weizsäcker eröffnet Toleranzgespräche 2020
http://pte.com/news/20200131002



(Ende)
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